Den Hinweis »Es ist wichtig, sich abzugrenzen« höre ich so oder ähnlich immer mal wieder in unterschiedlichen Kontexten. Das bekommen Menschen durchaus in Coachings und Therapien oder auch von Freundinnen und Freunden als Empfehlung, wenn sie emotional sehr belastet sind oder sich von Menschen verletzen lassen. »Da musst du jetzt mal Grenzen setzen!«

Übers müssen könnte man auch diskutieren, aber mir geht es vor allem um das Setzen von Grenzen. Das ist in akuten Gefahrensituationen ein passendes Mittel, um sich in Sicherheit zu bringen.

Wir benutzen das aber auch in Situationen, in denen eine andere Perspektive darauf kraftvoller und wirkungsvoller wäre.

Denn wenn man sich den Power Or Control Process anschaut, dann kann man »Grenzen setzen« dem Control Cycle zuordnen: Wir versuchen nämlich, etwas zu stoppen oder zu vermeiden.

Beispiel: Ich wurde von meiner Chefin auf wenig freundliche Weise zurechtgewiesen; sie hat mir im Team-Meeting das Wort abgeschnitten, hat meine Äußerung als »Quatsch« abgetan und mich gebeten, mich für den Rest des Meetings rauszuhalten. Diese Erfahrung ist unangenehm, und ich will nicht, dass mir das noch einmal passiert. Zukünftig möchte ich meiner Chefin Grenzen setzen oder möchte mich von dieser Erfahrung abgrenzen und es nicht so persönlich nehmen.

All das ist defensives und reaktives Verhalten – und führt somit weg von Stärke, Freiheit und Optionen. Es mag uns zunächst ein Stückchen Sicherheit geben und das Gefühl, Dinge wieder in Kontrolle zu haben. Aber eigentlich macht es uns schwach. Denn was wird in Zukunft passieren?

In Anwesenheit meiner Chefin bin ich unsicher, wahrscheinlich gebe ich immer noch ihr die Schuld an der ganzen Situation, d.h. ich bin nicht im mentalen Zustand VERANTWORTUNG. Ich warte auf den Moment, in dem ich eine Grenze setzen muss, und das bindet vermutlich einen Großteil meiner Aufmerksamkeit, sodass ich wenig anderes wahrnehme und damit vielleicht sogar die Wahrscheinlichkeit erhöhe, dass ich wieder in diese Situation gerate. Und vor allem mache ich nichts, um mein Problem wirklich zu verstehen. Ich habe die Bewertung vorgenommen, dass meine Chefin sich so nicht verhalten darf, es sich also um schlechtes Verhalten handelt – und dann denke ich nicht weiter und erforsche die Situation nicht. Stattdessen gebe ich mir die Regel »Grenzen setzen«. Die sorgt kurzfristig für Erleichterung, weil sie mir die Illusion verschafft, am Steuer zu sitzen, aber tatsächlich steuert mich meine Angst.

Es gilt also, sich die eigene Stärke bewusst zu machen. »Ich habe schon ganz andere Situationen überstanden« könnte eine nützliche und ermutigende Perspektive sein. Außerdem hilft es, die eigene Absicht zu füttern: »Ich will eine wirkungsvolle Antwort auf mein Problem finden« unterstützt mich und lässt mich die unangenehmen Gefühle, die mit der Situation ja immer noch einhergehen, aushalten und annehmen. Ich muss nichts kontrollieren, denn ich bin doch schon längst diejenige, die ihr Leben selbst in der Hand hat. Mit dieser Haltung bin ich bereit, mehr zu sehen als eine Schwarz-weiß-Bewertung. Deshalb kann ich übrigens trotzdem – sollte sich die Situation wiederholen – zu meiner Chefin etwas sagen wie: »Stopp. So möchte ich mich nicht behandeln lassen. Ich steige jetzt aus diesem Gespräch aus und bin wieder gesprächsbereit, wenn Sie mir zuhören können oder einen konstruktiven Vorschlag machen können, was sie sich eigentlich von mir wünschen.« Das dürfte die Dynamik durchbrechen und lässt mich vielleicht sogar Stärke spüren. Doch das wirkliche Problem ist nicht gelöst, solange ich meine Chefin für verkehrt und meine Situation für schlecht halte.

Was also stattdessen?

Ich heiße den Ärger willkommen und spende mir Mitgefühl, dass ich in dieser unangenehmen Situation gelandet bin. Und dann gehe ich ins Erforschen, denke also in alle Richtungen und nehme unterschiedliche Perspektiven ein.

  • Will ich meine Chefin besser verstehen und suche das Gespräch?
  • Mit wem möchte ich überhaupt darüber reden, um es besser zu verstehen?
  • Glaube ich daran, dass sich das Verhältnis zu meiner Chefin verbessern kann?
  • Will ich diesen Job behalten?
  • Wie habe ich diese Situation angezogen?
  • Welche Optionen habe ich – sowohl für mein Verhalten in zukünftigen Team-Meetings als auch generell?
  • Wie kann ich mein Selbstvertrauen stärken?
  • Welche Klarheit würde mir helfen?
  • Was genau ist mein Problem?
  • Welche Werte sind mir im Arbeitsleben wichtig?

Über diese Fragen bekomme ich ein klareres Bild von meinem Problem, von meiner Situation und vielleicht sogar von meiner Lösung oder von einem nächsten Schritt. Es ermöglicht also etwas ganz anderes als »Grenzen setzen« es könnte. Ich mache mich groß statt klein und richte den Blick auf meine Fähigkeiten und Stärken statt auf Defizite und Mangel. Wir denken beim »Grenzen setzen« daran, anderen Menschen Grenzen zu setzen, doch wir setzen sie eben auch uns selbst und verhindern damit einen kraftvollen Umgang mit schwierigen Situationen.

Ich wünsche dir, dass du die grenzenlosen Optionen spürst, die du in den allermeisten Situationen im Leben hast!

Diese eigene Stärke besser kennenzulernen und weiter zu stärken, kann man lernen; beispielsweise im Intensivkurs Responsibility. Einen weniger (zeit- und geld-)intensiven und trotzdem kraftvollen Einstieg liefert dir unser E-Learning Selbstführung mit The Responsibility Process.



Führe dich selbst zuerst!

Nadine und Henning Wolf, selbstführen W2 GmbH
Telefon: +49 4152 6244, kontakt@selbstfuehren.de
www.selbstfuehren.de

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